"Bildung ist wichtig, damit man für sich sprechen kann!"
Domitila Barros | Die Green-Influencerin, Social-Entrepreneurin und Miss Germany 2022 spricht im Interview darüber, wie ihre Kindheit sie geprägt hat – und vor allem welch große Inspiration die Selbstlosigkeit ihrer Mutter für sie darstellt. Sie erläutert, warum Bildung so wichtig ist – auch um sich vor Gewalt zu schützen und für sich sprechen zu können. Sie erklärt, warum Nächstenliebe ein Teil von Nachhaltigkeit ist und wie sie sich mithilfe von "Sisterhood" (Solidarität/Zusammenhalt unter Frauen) für soziale und nachhaltige Themen engagiert.
Frau Barros, inwieweit hat Sie das Straßenkinderprojekt "CAMM" Ihrer Eltern geprägt? Was haben Sie von Ihren Eltern zu den Themen Nachhaltigkeit und soziales Engagement mitgenommen?
Das Wichtigste, das ich von meinen Eltern im Thema Nachhaltigkeit mitbekommen habe, ist: Bei Nachhaltigkeit geht es darum, wie wir unsere Mutter Erde schützen können, damit sie uns nicht ausspuckt. Ebenso wertvoll war es, zu sehen, wie meine Eltern Dinge angepackt haben, einfach gemacht haben – auch mit den wenigen Möglichkeiten, die sie hatten. Im Straßenkinderprojekt meiner Eltern war es selbstverständlich, Dinge zu teilen – egal, ob Kühlschrank, Rasenmäher, Auto oder Wohnung. Der Begriff "Besitz" spielt keine Rolle in meinem Leben, dahingehend haben meine Eltern mich geprägt. Und ich finde: Wir alle sollten viel mehr Sharing Economy (Anm. d. Red.: gemeinschaftliche Nutzung von Gütern) betreiben!
Würden Sie Ihre Eltern als Ihre Vorbilder bezeichnen?
Absolut, mich inspiriert vor allem die Selbstlosigkeit, meiner Mutter. Roberta Barros ist die selbstloseste Person, die ich kenne. Ich bin nicht immer selbstlos, bin oft dickköpfig – aber meine Mutter inspiriert mich, ein besserer Mensch zu sein. Ich glaube, wir müssen alle ein bisschen selbstloser werden. Meine Mutter hat in den letzten 40 Jahren 5.000 Kinder im Straßenkinderprojekt großgezogen. Ihre Ausdauer und ihre Resilienz inspirieren mich – und haben mich schon oft vorm Aufgeben meiner eigenen Projekte abgehalten. Das Motto meiner Mutter lautet: "Walk what you talk" (Anm. d. Red.: Lass deinen Worten Taten folgen) – und sie spornt mich jeden Tag aufs Neue dazu an, mein ganzes Leben so zu gestalten.
Über Domitila Barros:
Domitila Barros, 38, wuchs in einer Favela (portugiesisch: Armenviertel) im Nordosten Brasiliens auf. Dort gründeten und leiten ihre Eltern ehrenamtlich seit über 30 Jahren ein Straßenkinderprojekt. Barros unterrichtete bereits als Jugendliche andere Kinder und Jugendliche im Lesen und Schreiben. Nachdem sie im Jahr 2000 von den Vereinten Nationen (englisch: United Nations, UN) als "Millenium Dreamer" ausgezeichnet wurde, änderte sich ihr Leben schlagartig. Heute ist sie Green-Influencerin, Beraterin für Unternehmen und Privatpersonen und hat mit "She is from the jungle" eine nachhaltige Schmuckmarke ins Leben gerufen. Diese Marke ermöglicht Frauen aus Brasilien eine wirtschaftliche Integration. Außerdem wurde sie zur Miss Germany 2022 gewählt.
Frau Barros, was motiviert Sie zu Ihrem Engagement?
Mir ist es wichtig, mich aktiv für Women’s Empowerment einzusetzen. Zudem berate ich seit zehn Jahren Unternehmen weltweit in den Bereichen soziale Verantwortung und Nachhaltigkeit. Ebenfalls habe ich die Möglichkeit bekommen, als afrodeutsche Frau meinen Standpunkt und Impulse in die Politik einzubringen. Es ist mir wichtig, in der Entscheidungsebene im Thema Bildung und Nachhaltigkeit anzusetzen – daher habe ich auch meinen Master in Sozialer Politikwissenschaft gemacht. Denn schlussendlich ist ein Unternehmen auch davon abhängig, welche Entscheidungen in der Politik getroffen werden.
Wie war es für Sie, bereits in jungen Jahren anderen Kindern lesen und schreiben beizubringen?
Erst mal ist es wichtig, zu erwähnen, warum ich als Jugendliche begann, Kinder und andere Jugendliche zu unterrichten. Als ich zwölf Jahre alt war, wurde meine beste Freundin ermordet. Meine Eltern gaben mir damals Kraft, indem sie mir rieten: Sei Aktivistin, anstatt Opfer der Situation zu sein. Um sich vor Gewalt zu schützen, ist Bildung wichtig. Doch wie kann man unterernährten Kindern erleichtern, lesen und schreiben zu lernen? Ich kam auf die Idee, dies mit Musik und Theater zu verbinden. Kindern Bildung zu vermitteln, war das Revolutionärste, das ich hätte machen können. Bildung ist wichtig, damit man für sich sprechen kann.
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Was hat es für Sie bedeutet, im Jahr 2000 von der UN als "Millenium Dreamer" ausgezeichnet zu werden?
Das war das Schönste, das in meinem Leben passiert ist. Ich bin noch immer in Kontakt mit der Dame, die mich damals ausgesucht hat. Auch das ist für mich Nachhaltigkeit: Beziehungen über Jahrzehnte zu pflegen. Dieser Preis hat ermöglicht, dass ich heute dort bin, wo ich bin. Es war ein unglaubliches Gefühl, plötzlich von der UN für meine Arbeit in der Favela gewürdigt zu werden – und dass ich auf einmal sprechen und sogar beraten durfte.
Wie kam es zu Ihrem Titel "Miss Germany 2022" und wie möchten Sie diesen nutzen?
Ich bin eine 38-jährige Immigrantin, die sich aktiv bei "Miss Germany 2022" beworben hat – und warum? Für die Wahl wurden explizit Frauen gesucht, die sich für soziale Themen einsetzen. Ich dachte mir, dass ist eine tolle Möglichkeit, um mich mit Frauen zu vernetzen, die soziale Verantwortung übernehmen wollen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich gewinne. Als ich dann Miss Germany wurde, wusste ich, ich will die mediale Aufmerksamkeit nutzen, um mehr Menschen zu erreichen und für soziale und nachhaltige Themen zu mobilisieren – vor allem auch jene, die sich bis jetzt noch nicht dafür interessieren. Und ja, ich habe mich mit vielen Teilnehmerinnen vernetzt. Sisterhood ist mir sehr wichtig!
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Wie ist es für Sie, heute ein Vorbild für andere zu sein?
Es ist ein schönes Gefühl, dass ich aufgrund meiner Werte bekannt bin. Jedoch muss ich manches Mal aufpassen, mich nicht zu sehr unter Druck zu setzen. Mir ist es immer wichtig, einen guten Eindruck zu hinterlassen, um Menschen für Nachhaltigkeit zu begeistern.
Ist Netzwerken für nachhaltige Arbeit wichtig und wie gelingt es Ihrer Meinung nach?
Networking is everything! (Anm. d. Red.: Netzwerken ist alles!) Hätte ich im Jahr 2000 – als ich von der UN als "Millenium Dreamer" ausgezeichnet wurde – nicht alle Visitenkarten eingesammelt, wäre ich heute nicht da, wo ich bin. Nachhaltigkeit braucht Zeit – und fordert auch nachhaltige Beziehungen. So ist nicht nur Vernetzen wichtig, sondern auch das Pflegen seiner Kontakte. Wenn ich heute sage, ich brauche Hilfe – dann kommt auch jemand. Meiner Meinung nach kann man nur ein glaubwürdiger Green-Influencer sein, wenn man Menschen mag. Denn wir Menschen sind ein Teil der Umwelt.
Gibt es spezielle neue soziale oder nachhaltige Projekte oder Vorhaben, die Sie in Planung haben?
Ja, ich habe viele neue Projekte, die in Planung sind. Zum Beispiel fliege ich im Dezember 2022 nach Brasilien und baue mithilfe von Spendengeldern einen Wasserspielplatz für Kinder. Eine weitere Herzensangelegenheit wird mein Engagement für die Special Olympics sein. Außerdem hoffe ich im Februar, Young Global Leader beim "Young Global Leader Forum" zu werden – diese Entscheidung steht aber noch aus. Jedenfalls möchte ich im Jahr 2023 noch mehr Fair-Produkte auf den Markt bringen. Meine Intention ist es nicht, dabei reich zu werden, sondern faire Produkte für alle Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Ich will mit erschwinglichen fairen Produkten Druck auf die Wirtschaft machen, damit diese vermehrt bei Fair-Produkten nachziehen.
Drei Dinge für die Zukunft
Mein Tipp für andere
Tipp 1: Sei nicht so streng mit dir selbst und fang dort an, wo du kannst! Es bringt nichts, sich Vorwürfe zu machen, wenn man zum Beispiel im Dorf aufgrund schlecht ausgebauter öffentlicher Verkehrsmittel mit dem Auto fährt. Anstatt der Vorwürfe kann man seine Energie dafür verwenden, den Müll stets ordnungsgemäß zu trennen. Es bringt nichts, alle Vorhaben umsetzen zu wollen und dann frustriert aufzugeben – und am Ende vielleicht gar nichts zu machen.
Tipp 2: Wir Menschen gehören zur Umwelt. Offenheit gegenüber Diversität gehört für mich zur Nachhaltigkeit dazu!
Meine Vision für 2030 und 2050
Ich bin ein Mensch mit utopischer Gesinnung. Ich möchte, dass die Menschen im Jahr 2030 aufgehört haben, sich gegenseitig umzubringen. Denn wir sind – wie gesagt – ein Teil der Umwelt. Ich wünsche mir, dass Berlin 2030 eine Green City ist. Wir brauchen in Berlin keine Autos.
Für 2050 wünsche ich mir, dass Unternehmen kein Geld für nachhaltige Siegel bezahlen müssen – damit kleineren Betrieben der Zugang zur Nachhaltigkeit erleichtert wird. Generell wünsche ich mir mehr Unterstützung für die Kleinstunternehmen, damit es zu mehr sozialer Gerechtigkeit kommt.
Mein dringlichstes Nachhaltigkeitsziel
Aktuell erachte ich das Ziel 6 "Sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen" als besonders dringlich. Und dabei denke ich nicht nur an Afrika, sondern zum Beispiel auch an die Ukraine. Wasser und gesundheitliche Versorgung sind die wichtigsten Grundvoraussetzungen. (Anm. d. Red.: Die Vereinten Nationen (UN) definierten in der „Agenda 2030“ 17 globale Nachhaltigkeitsziele.)
Über Domitila Barros