"Nachhaltiger zu werden, ist eine Lebensaufgabe"
Ina Streichert | Nachhaltigkeitspionierin Ina Streichert spricht im Interview darüber, warum sie der Dreiklang Umwelt/Soziales/Wirtschaft – erweitert um den Bereich Kultur – seit über 20 Jahren nicht mehr loslässt, wie sie die Menschen in der Norderstedter Stadtverwaltung für das Thema sensibilisiert – und warum ihre Kollegin Eva Reiners, Veranstaltungsleiterin beim Stadtpark Norderstedt, mit ihrer Art, das Thema Nachhaltigkeit anzugehen, sie stark beeindruckt hat.
Frau Streichert, seit über 20 Jahren engagieren Sie sich bei der Stadt Norderstedt in der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Wie kam es dazu?
Ich bin in Norderstedt aufgewachsen und zur Schule gegangen. In den 80er-Jahren habe ich eine klassische Verwaltungsausbildung bei der Stadt gemacht. Meine erste Stelle war beim Umweltamt, wo ich dann viele Jahre gearbeitet habe. Nach einer weiteren Ausbildung bin ich ins Sozialamt gegangen. Dort konnte ich bereits die Themen Umwelt und Soziales miteinander verbinden, was für mich irgendwie folgerichtig war. Als in den 2000er-Jahren unser neuer Amtsleiter das Thema nachhaltige Entwicklung auf die Agenda gesetzt hat, bin ich zurück ins Umweltamt – das wollte ich unbedingt machen! Dort habe ich die Leitung des Agenda-21-Büros übernommen, und dieser Dreiklang von Umwelt, Soziales und Wirtschaft hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Wichtig wurde sehr schnell die Kultur der Nachhaltigkeit. Damals war diese Art zu denken noch relativ neu, das fand ich total spannend. Später habe ich noch eine Ausbildung zur Agenda-21-Moderatorin gemacht und mir weitere Kompetenzen wie zum Beispiel Veranstaltungsmanagement angeeignet.
Whole Institution Approach – der ganzheitliche BNE-Ansatz
Ein prägender Mensch für Sie in Sachen Nachhaltigkeit ist Eva Reiners, mit der Sie im Vorstand der Kulturstiftung Norderstedt sitzen. Wie haben Sie sich kennengelernt?
Das war im Rahmen der Vorbereitungen der Landesgartenschau 2011, die 2006 begannen. Eva Reiners war für den Veranstaltungsbereich zuständig und hat uns bei einem Forschungsprojekt entscheidend unterstützt. Sie hat sich eigentlich schon immer mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinandergesetzt und lebt das bis heute als stellvertretende Geschäftsführerin des Stadtparks. Damals hat sie für die Landesgartenschau ein umfangreiches Bildungsprogramm aufgebaut. Mich hat ihre Beharrlichkeit beeindruckt, an den Themen dranzubleiben – und der unbedingte Wille, es stets noch ein bisschen besser zu machen. Sie hat sich immer gefragt: Was wünschen sich die Menschen aus dem Bildungsbereich von uns? Wo sind ihre Bedarfe? Wie können wir sie unterstützen? Dabei ist sie ein unglaublich aufgeschlossener Mensch. Für mich ist das ein Schlüssel: Nicht darauf zu schauen, was uns Menschen voneinander trennt, sondern was uns verbindet. Diese Art zu denken hat Eva Reiners in ihrem Arbeitsleben perfektioniert.
Über Ina Streichert:
Ina Streichert engagiert sich seit 1999 bei der Stadt Norderstedt in verschiedenen Funktionen für das Thema nachhaltige Entwicklung. Heute arbeitet sie in der Stabsstelle Nachhaltiges Norderstedt der Stadtverwaltung. Als ehrenamtliches Vorstandsmitglied der Kulturstiftung Norderstedt denkt sie kulturelle Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung zusammen.
Was genau tut die Stabsstelle Nachhaltiges Norderstedt?
Zum einen wollen wir die Menschen in der Stadtverwaltung für das Thema sensibilisieren. Es gibt ja einige Dienstanweisungen, die im Sinne der Nachhaltigkeit formuliert sind. Doch wenn man diese nicht befolgt, passiert im Grunde nichts. Deshalb versuchen wir einen anderen Weg als den der Anweisungen oder gar Verbote zu gehen: Wir gehen auf die Menschen zu, die dem Thema wohlwollend gegenüberstehen und Lust haben, sich damit zu beschäftigen; die ihren Bereich daraufhin überprüfen wollen, ob Nachhaltigkeit dort eine Rolle spielen kann. Denen können wir dann bei kniffligen Fragen helfen und sie dabei unterstützen, Dinge auch umzusetzen. Für die einzelnen Themen wie Klimaschutz oder Biodiversität haben wir z. B. Expertinnen und Experten oder auch eine Umweltberatung, die etwa beim Thema nachhaltige Beschaffung helfen kann. Wenn ich in der Kaffeeküche von einer Kollegin gefragt werde: "Na, was macht die Nachhaltigkeit?", dann frag ich gerne zurück: "Und was machst du für die Nachhaltigkeit?" Ich möchte den Leuten vermitteln: Das ist nicht mein persönliches Privatthema, sondern geht uns alle an.
Und wenn es um das Thema Bildung für nachhaltige Entwicklung geht, fokussieren wir uns von der frühkindlichen Bildung über die schulische Bildung bis hin zur außerschulischen non-formalen Bildung. Ich bin davon überzeugt, dass wir damit langfristig den größten Effekt erzielen.
Die Bundesregierung veröffentlicht nationale Strategie zu Open Educational Resources
Was steckt hinter der "nun"-Zertifizierung, mit der sich Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt für Bildung für nachhaltige Entwicklung einsetzen?
"nun" steht für "norddeutsch und nachhaltig" in der non-formalen Bildung – also an außerschulischen Lernorten. Als Modellkommune BNE hat sich Norderstedt verpflichtet, städtische Einrichtungen für eine Zertifizierung zu gewinnen. Wir überlegen gemeinsam, welche Qualifizierungen und Prozesse angestoßen werden müssen, beraten, vernetzen und helfen bei Anträgen. Die Zertifizierung können einzelne Institutionen oder mehrere Organisationen gemeinsam, aber auch Soloselbstständige bekommen: vom Stadtmuseum oder dem Stadtarchiv über Volkshochschulen und Büchereien bis zum Weltladen oder der Musikschule. Alle sechs Wochen bieten wir ein Treffen für interessierte Einrichtungen an. Da schauen wir dann, ob diese sich einen "Whole Institution Approach", den ganzheitlichen BNE-Ansatz, für ihr Haus vorstellen können. Und welche Bildungsangebote sie Erwachsenen oder auch Kindern und Jugendlichen machen können. Dazu gibt es spezielle Vorbereitungskurse für das Antragsverfahren, bei dem man sich als Institution genau überlegen muss: Ist unsere Beschaffung schon nachhaltig? Welche Bildungsangebote haben wir? Wo und wie setzen wir die 17 Sustainable Development Goals, also die Nachhaltigkeitsziele der UN, kurz: "SDG", um? Und so weiter.
Was sind Ihre wichtigsten aktuellen Projekte?
Seit Kurzem gibt es eine BNE-Agentur in Schleswig-Holstein. Mit deren Leiterin Heike Hackmann wollen wir eine Bildungslandkarte organisieren, wie es sie schon in anderen Bundesländern gibt. Dort können alle Kommunen ihre BNE-Angebote zeigen, ohne dafür eigenes Geld in die Hand nehmen zu müssen. Außerdem treibt mich das Thema fairer Handel um, das müssen wir unbedingt intensiver verfolgen. Wir schreiben gerade an einer neuen Dauerausstellung zur Stadtentwicklung im Stadtmuseum, die wir mit Nachhaltigkeitsthemen verknüpfen wollen. Und wir arbeiten an einem Bildungskoffer für Vorschulkinder zu den 17 SDG. Da gibt es jetzt einen Prototyp zum Thema Wasser, von dem ich sehr gespannt bin, wie er bei den Kindern ankommt. Das sind jetzt nur einige Beispiele – wir haben also noch eine Menge vor.
Welche Rolle spielt das Netzwerken in Ihrer Arbeit?
Netzwerken hilft dabei, Menschen kennenzulernen, sich fachlich weiterzuentwickeln, Kompetenzen zu erweitern und Expertin oder Experte für einen bestimmten Bereich zu werden. Außerdem schaut man über den Tellerrand, statt in seiner eigenen Bubble zu bleiben, weil man dabei auch immer wieder Menschen aus anderen Disziplinen trifft. Mal aus anderen Perspektiven auf die eigene Herausforderung zu gucken, kann einen riesigen Erkenntnisgewinn mit sich bringen. Neue Netzwerke bieten unglaublich viele Möglichkeiten und Chancen für neue Ideen. Wichtig ist dabei auch, dass man sich auf seine eigenen Ressourcen konzentriert und sich nicht von Ansprüchen Anderer überrollen lässt. Netzwerken ist ein Geben und Nehmen – und wenn alle etwas beitragen, haben alle etwas davon.
Wie setzen Sie in Ihrem privaten Alltag Nachhaltigkeit um?
Grundsätzlich bin ich überzeugt davon, dass wir in unserer beruflichen Funktion nicht authentisch rüberkommen und niemanden überzeugen können, wenn wir das Thema nicht auch im Privaten mit Leben füllen – und das auch sichtbar für die Kolleginnen und Kollegen machen. Wir waren zum Beispiel die ersten, die Diensträder angeschafft haben. Da wurden wir anfangs von manchen mitleidig angeguckt, wenn wir im Regen Rad gefahren sind – auch schon zur Arbeit. Dienstreisen machen wir aus Überzeugung mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Beim Catering auf unseren Veranstaltungen zeigen wir Nachhaltigkeit durch bio und regionale oder mindestens fair gehandelte Produkte. Das mache ich privat nicht anders. Natürlich lebe auch ich im Privaten nicht hundert Prozent nachhaltig. Wichtig ist aber, dass man sich die Dinge bewusstmacht und sich mit ihnen auseinandersetzt. Denn klar ist, dass wir nur dann gut leben können, wenn wir alle viel ressourcensparender handeln.
Was ist Ihrer Meinung nach die Stärke oder das Potenzial der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Kampagne zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)?
Wir vor Ort werden nur von wenigen wahrgenommen. Die Kampagne eines Bundesministeriums kann viel eher eine breite Masse erreichen. Und Motor für Veränderungen sein. Im Kulturbereich kann ich nicht selbst entscheiden. Aber wenn ich auf eine Initiative des Bundesministeriums verweise, kann das kaskadenartig durch die Institutionen von oben nach unten weitergetrieben werden. Wenn ein Bundesministerium Ausschreibungen oder Konferenzen organisiert, geben wir diese sehr gerne weiter, denn das hat natürlich eine ganz andere Strahlkraft.
Drei Dinge für die Zukunft
Mein Tipp für andere
Ich finde wichtig, den Menschen keine Angst zu machen. Natürlich kann man auf die schrecklichen Szenarien verweisen, die uns bevorstehen, mit schmelzenden Polen und Hochwasser oder auch unbezahlbaren Heizkosten. Aber dabei erstarren die Leute dann oft regelrecht. Entscheidend ist es, nach vorne zu gucken und zu schauen: Wo kann ich jetzt in meinem Alltag etwas verändern? Womit fange ich an? Und dann merkt man, dass das gar nicht weh tut und kann den nächsten Schritt gehen. Das ist eine Lebensaufgabe für jede und jeden von uns. Vor Kurzem habe ich mich mit einem Umweltpsychologen unterhalten, der klar gesagt hat: Die Menschen sind nur in bestimmten Phasen ihres Lebens offen für Veränderungen. Es lohnt sich also gezielt zu gucken, an welchem Punkt man die Menschen für Nachhaltigkeit sensibilisieren kann: Wer gerade ein Kind bekommen hat, interessiert sich für gesunde Ernährung. Wer ein Haus gekauft hat, ist offen für das Thema energetische Gebäudesanierung. Oder neue Formen der Mobilität. Und so weiter. Auf diese Weise kann man sich auf sehr konkrete Zielgruppen fokussieren, verzettelt sich nicht so und hat da dann auch mehr Erfolgserlebnisse. Hierfür hilft ein strategischer Blick, bei dem einem wiederum das Netzwerk aus Expertinnen und Experten helfen kann.
Meine Vision für 2030 und 2050
Ich hoffe, dass die Beschäftigung mit den 17 SDGs in den nächsten Jahren in der Mitte der Gesellschaft ankommt und zu einer ressourcenschonenderen Lebensweise führt. Noch ist es leider so, dass sehr viele Menschen noch nie von den SDG gehört haben. Außerdem müssen wir eine Lebensweise mit einer gerechteren Verteilung von Wohlstand hinbekommen. Wir haben doch persönlich so viele Handlungsoptionen: Warum entdecken wir nicht gemeinsam, wie viel Spaß es auch machen kann, im Privaten an den vielen kleinen Stellschrauben zu drehen? Ganz persönlich wünsche ich mir, dass wir alle eine bessere Work-Life-Balance hinkriegen. Gerade im BNE-Bereich sind sehr viele Menschen unglaublich idealistisch unterwegs und beuten sich dabei auch selbst aus. Zum Beispiel sind viele neben ihren regulären Jobs auch noch unbezahlt für die gleichen Aufgaben unterwegs.
Mein dringlichstes Nachhaltigkeitsziel
Grundsätzlich gehören die alle zusammen und sind gleich wichtig. Auf meine konkrete Tätigkeit bezogen ist aber natürlich das Thema "hochwertige Bildung", also Ziel 4 der SDGs, besonders wichtig. Das versuchen wir hier mit Leben zu füllen und voranzutreiben. Mit den Institutionen, die wir beraten, schauen wir immer auf alle 17 Ziele und gucken, in welchen sie sich wiederfinden, wo sie mit und in ihrer eigenen Arbeit am besten ansetzen können.
Über Ina Streichert