"Bildung für nachhaltige Entwicklung muss inklusiv sein!"
Jeanine Rühle | Das Mitglied im youpaN (Jugendpanel zur Beteiligung an der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans Bildung für nachhaltige Entwicklung [BNE]), Jeanine Rühle, erzählt im Interview, warum sie sich in BNE besonders gegen Ungerechtigkeiten einsetzt. Außerdem erzählt sie von unterschiedlichen Vorbildern und warum die Jugend insbesondere junge Vorbilder benötigt.
Was bedeutet BNE für Sie?
Bildung für nachhaltige Entwicklung sollte inklusiv und zukunftsfähig sein. Mit inklusiver Bildung meine ich, dass hochwertige und kostenfreie Bildung allen Menschen zur Verfügung stehen und physische und soziale Herkunft keine Barrieren darstellen sollten. Bildungseinrichtungen sollten ein Ort der Begegnung sein und keine Selektion fördern. Zukunftsfähigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass sich Bildung an den globalen Bedürfnissen aktueller und zukünftiger Generationen orientiert. Hier ist es wichtig, den Begriff der nachhaltigen Entwicklung genauer anzuschauen. Entwicklung geht dabei über das gängige Wachstumsnarrativ hinaus und sollte postkoloniale und generationenübergreifende Perspektiven berücksichtigen.
Gibt es jemanden, der Sie zu Ihrem Engagement für BNE inspiriert hat?
Mein Engagement begann nicht erst mit BNE. Schon während meiner Schulzeit habe ich mich sozial engagiert. Im schulischen Kontext habe ich mich in der SMV (Anm. d. Red.: Schülermitverantwortung; Schülerinnen und Schüler arbeiten an der Gestaltung ihrer Schule und des Schulwesens mit) und diversen AGs (Anm. d. Red.: Arbeitsgemeinschaften, die außerhalb des Pflichtunterrichts freiwillig besucht werden können) für die Interessen der Schülerinnen und Schüler unserer Schule eingesetzt. Jedoch war und ist Ehrenamt für mich auch eine Möglichkeit, Missstände direkt anzugehen, weshalb ich mich in der Senior*innenenheim-AG und in Zeltlagern engagierte. Eine Haltung, zu der mich vor allem meine Familienmitglieder inspiriert haben, die sich in örtlichen Vereinen engagieren. Genau dieser Einsatz und die dabei so zentrale gegenseitige Unterstützung ist es, was das Zusammenleben bereichert.
Später, während meines Studiums, wurde mein Engagement zunehmend politischer. Obwohl mir die direkte Arbeit mit Menschen sehr am Herzen liegt, sind die Ungerechtigkeiten sehr umfassend und erfordern daher politische Handlungen. Während meines Bachelorstudiums der Sonderpädagogik beschäftigte ich mich insbesondere mit inklusiver Bildung. Dabei begegnete mir zum ersten Mal das Konzept BNE. Dr. Strehle, mein Dozent, ermutigte mich dazu, BNE im Kontext von Inklusion weiterzudenken. Seitdem lässt mich BNE nicht mehr los. Das veranlasste mich zu einem Master in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, um Inklusion und BNE auch auf theoretischer Ebene zusammendenken zu können.
Durch Zufall entdeckte ich das youpaN, bei dem ich seit 2021 Mitglied bin. Hier traf ich auf Gleichgesinnte, welche mich dabei inspirierten, weiterzumachen. Befähigt hat mich da vor allem unsere pädagogische Begleitung Jess, aber auch andere youpaNinis (so nennen wir uns als Mitglieder). Doch auch prominente Vorbilder inspirieren mich sehr, vor allem (junge) Frauen wie Luisa Neubauer, Annalena Baerbock, Jacinda Ardern oder Sanna Marin.
youpaN - BNE-Jugendforum Bildung für nachhaltige Entwicklung
Über Jeanine Marie Rühle:
Jeanine Marie Rühle ist 24 Jahre alt und Mitglied im youpaN, dem Jugendforum, das an der kollektiven Umsetzung des Nationalen Aktionsplans BNE beteiligt ist. Darüber hinaus vertreten die insgesamt 30 Mitglieder die Perspektiven junger Menschen zu BNE auch im Rahmen von Workshops oder Fachgesprächen. Jeanine setzt sich hier insbesondere für eine inklusive BNE-Perspektive und für die Zusammenarbeit mit anderen jungen Menschen auf europäischer Ebene ein. Daher ist sie Youth Focal Point des UNECE Steering Committee on ESD (Anm. d. Red.: Jugendkontaktstelle für BNE bei der United Nations Economic Commission for Europe; auf Deutsch: Wirtschaftskommission für Europa) und vertrat die Universität Tübingen in der europäischen Hochschulallianz CIVIS (Anm. d. Red.: Die Universität Tübingen hat sich mit zehn weiteren europäischen Hochschulen im Bündnis "CIVIS – A European Civic University" zusammengeschlossen). Ansonsten schreibt sie gerade an ihrer Masterarbeit in Erziehungswissenschaften und hat einen Bachelorabschluss als Sonderpädagogin. Nebenher arbeitet sie am Kompetenzzentrum für Nachhaltige Entwicklung der Universität Tübingen.
Heute sind Sie selbst durch Ihr Engagement eine Vorbildfigur. Wie fühlt sich das an?
Eigentlich fühle ich mich ziemlich normal und kann das nicht immer begreifen. Aber natürlich fühle ich mich auch sehr geehrt und gleichzeitig weiß ich, welche Verantwortung damit einhergeht. Jedoch finde ich es wichtig, Vorbildfiguren zu normalisieren. Denn wenn wir als Vorbilder ausschließlich Heldinnen und Helden haben, schreckt das vom Nachahmen ab. Es braucht gerade für junge Menschen junge Vorbilder, weil der Lebensweg noch so nahbar scheint. Deshalb finde ich es super, wenn mein Engagement entsprechend Reichweite hat. Betonen möchte ich aber, dass es auch Momente gibt, in denen ich mich unsicher oder mit den Herausforderungen überfordert fühle oder mein eigenes Konsumverhalten kritisch hinterfragen muss. Dabei habe ich das große Glück, durch mein Engagement im youpaN pädagogisch begleitet zu werden, weshalb ich schwierige Situationen nicht alleine meistern muss. In diesem unterstützenden Umfeld kann jede und jeder ein Vorbild werden, wozu ich ermutigen möchte. Wenn man versucht anzugehen, was einem am Herzen liegt, wird man automatisch zum Vorbild.
Ist Netzwerken für nachhaltige Arbeit wichtig und wie gelingt es Ihrer Meinung nach?
Ich finde Netzwerken ist ein sehr diplomatischer und formeller Begriff. Dabei muss ich daran denken, dass ich vor dem Spiegel geübt habe, wie ich elegant meine Visitenkarten aus dem Blazer ziehen kann, ohne dabei die Hälfte runterzuwerfen. Netzwerken im Kontext der Nachhaltigkeit ist aber für mich viel mehr als diese meist sehr formelle Gesprächsform. Sie bringt Menschen zusammen! So kann gemeinsam überlegt werden, wie zusammengearbeitet und sich gegenseitig unterstützt werden kann. Diese gegenseitige Unterstützung ist so wichtig, da der Weg zur nachhaltigen Entwicklung jede Einzelne und jeden Einzelnen braucht.
Einladung zum nächsten BNE-Stammtisch
Mein Papa sagt: „Man muss immer schwätze mit de Leud.“ Und da hat er recht. Gespräche können Ideen entfalten und Neues entstehen lassen. Dabei hilft es, von einer grundsätzlich positiven Einstellung des Gegenübers auszugehen. So werden die Gespräche meist sehr wertschätzend und gegenseitige Sympathie hilft ungemein bei der Zusammenarbeit. Wenn man sich im Gespräch auf Gemeinsamkeiten konzentriert, sich bei unterschiedlichen Einstellungen auf Kompromisse einigt und versucht, die Perspektive des Gegenübers nachzuvollziehen, wirkt sich das positiv auf die Zusammenarbeit aus.
Was sind Ihre nächsten Projekte oder worauf legen Sie in nächster Zeit Ihren Fokus?
Vermutlich sollte ich den Fokus hauptsächlich auf meine Masterarbeit legen. Aber viel lieber möchte ich Menschen zusammenbringen, um BNE zu leben und zu verbreiten. Daher schreiben wir an einem BNE-Praxisleitfaden für Lehrkräfte. Dabei versuchen wir möglichst, die Lebensrealität von Lehrkräften zu berücksichtigen und zu verdeutlichen, dass eine ganzheitliche BNE nicht mit Mehraufwand verbunden ist. Gleichzeitig arbeiten wir aber auch auf politischer Ebene weiter und bereiten gerade ein Treffen mit der KMK-Präsidentin (Anm. d. Red.: Am 16. Januar 2023 wurde die Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz durch Senatorin Astrid-Sabine Busse übernommen) vor, um BNE auch auf Länderebene noch stärker zu verankern. Auf europäischer Ebene versuchen wir gerade, Jugendbeteiligung auch im Kontext von ESD (Anm. d. Red.: Education for Sustainable Development; auf Deutsch: Bildung für nachhaltige Entwicklung) stärker zu implementieren. Insgesamt versuche ich, Brücken zwischen den verschiedenen Ehrenamtsstrukturen herzustellen, um so noch mehr junge Menschen für BNE und Nachhaltigkeit begeistern zu können.
Wie setzen Sie in Ihrem Alltag Nachhaltigkeit um?
Im ökologischen Sinne mache ich vermutlichen dieselben kleinen Dinge, die viele andere Menschen auch tun: Müll vermeiden oder trennen, mit dem Rad oder der Bahn unterwegs sein und mich mindestens vegetarisch zu ernähren. Jedoch finde ich es auch wichtig, soziale Nachhaltigkeitsaspekte in meinem Alltag umzusetzen. Hierfür versuche ich, durch mein Handeln niemanden auszuschließen. Gerade in Gesprächen ist es essenziell, auch soziale Nachhaltigkeitsdimensionen immer wieder zu thematisieren. Insgesamt finde ich es bedeutend, im Alltag über Nachhaltigkeit zu sprechen. Dabei möchte ich Menschen nicht "überwältigen", sondern versuchen, den Vorteil von Nachhaltigkeit darzustellen.
Was ist Ihrer Meinung nach die Stärke oder das Potenzial der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten BNE-Kampagne?
BNE in die Breite der Gesellschaft zu tragen ist so wichtig! Wenn wir die Nachhaltigkeitsziele ernsthaft umsetzen wollen, braucht es die Unterstützung der Mehrheit der Gesellschaft. Dafür braucht es eine Kultur der Nachhaltigkeit und diese wird durch die Kampagne gefördert. Die Kampagne bringt Menschen zusammen und befähigt sie, gemeinsam Nachhaltigkeitsziele anzugehen. Zusätzlich wird BNE auch politisch wahrgenommen und so nicht zur Aufgabe von Einzelpersonen, sondern institutionell verankert. Denn politische Ansätze braucht es dringender denn je.
Drei Dinge für die Zukunft
Mein Tipp für andere
Fange an, die Dinge zu verändern, die dir am Herzen liegen. Und dann versuche, möglichst viel darüber zu reden. So kannst du auch zum Vorbild für andere werden. Denn es braucht uns alle als Vorbilder.
Meine Vision für 2030 und 2050
Nachhaltigkeit ist keine Vision des Privaten mehr, sondern politischer Konsens. Durch die entstandene Kultur der Nachhaltigkeit können alle Menschen an gesellschaftlichen Prozessen teilhaben und berücksichtigen die planetaren Grenzen bei ihren Entscheidungen. Der Begriff "marginalisierte Gruppen" ist nur noch in Geschichtsbüchern zu finden (gleich neben "Kohlegrube" und "Ausbeutung").
Mein dringlichstes Nachhaltigkeitsziel
Für mich ganz eindeutig SDG 4 "hochwertige Bildung" (Anm. d. Red.: Sustainable Development Goals; 17 globale Nachhaltigkeitsziele wurden 2015 von den Vereinten Nationen in der Agenda 2030 definiert). Denn Bildung ist der Schlüssel, um auch all die anderen dringenden globalen Herausforderungen bewältigen zu können. Die Grundvoraussetzung ist hierfür jedoch SDG 16 "Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen".