"Das Kind steht im Mittelpunkt und nicht der Stoff"
Margret Rasfeld sprach mit der Deutschen UNESCO-Kommission über Lernorte und Lernformate der Zukunft und über die Frage, mit der sie am häufigsten bei ihren Beratungen konfrontiert wird.
Gibt es heute schon ganzheitliche Lernorte, bei denen BNE im Mittelpunkt steht?
Ja die gibt es. Ich bin viel in Schulen unterwegs und sehe, dass es Schulen gibt, die von ihren Lernformaten her konventionell arbeiten, aber eine nachhaltige Schülerfirma haben oder Kinder zu Energiedetektiven ausbilden. Andere Schulen haben innovative Formate, die Selbstwirksamkeit und Verantwortung stärken, die Kindern viel zutrauen und sie rausschicken, damit sie mitarbeiten und erleben, sie können die Welt verändern. Und wir haben Schulen, die BNE ganzheitlich verstehen, die BNE-Inhalte fachbezogen und fachübergreifend verankern, Gebäude und Campus nachhaltig gestalten, innovative Lernformate strukturell verankern, in Projekten an den großen Themen der Zeit arbeiten. Viele dieser Schulen stellen die Global Goals ins Zentrum und schauen nicht nur, was können wir an der Schule tun, sondern auch in der Kommune. Angesichts von fast 40.000 Schulen, die wir in Deutschland haben, ist aber noch viel Wirkung in die Breite vonnöten.
Wie würde denn für Sie so ein Lernort der Zukunft aussehen?
Der wird überall anders aussehen. Das kommt darauf an, ob er auf dem Land oder in der Stadt ist, ob man ein kleines System ist oder ein großes. Es wird keinen einheitlichen Lernort der Zukunft geben, denn jede Schule ist ein einzigartiger Organismus. Jedoch werden in Zukunfts-Schulen bestimmte Prinzipien und Haltungen gelebt: eine wertschätzende Beziehungskultur, sinnstiftendes Lernen im Leben an realen Herausforderungen, der Paradigmenwechsel von der Wissensvermittlung zur Potenzialentfaltung, von der Kontrolle und Fehlerangst zum Vertrauen, Abschied vom Optimierungswahn und der Konkurrenz gegeneinander. Die vier Säulen der UNESCO – Lernen Wissen zu erwerben, Lernen zusammen zu leben, Lernen zu handeln, Lernen zu sein – sind hilfreiche Orientierungen für die Neuausrichtung der Lern- und Schulkultur
Ich plädiere für 20 bis 30 Prozent Lernzeit für Lernen durch Engagement. So haben zum Beispiel an meiner alten Schule 1998 11-jährige Schüler das Fach Verantwortung erfunden. Das bedeutet, sie gehen raus und übernehmen eine ökologische oder soziale Aufgabe. Eine Aufgabe im Gemeinwesen, selbstbestimmt, selbstgesucht und erlebt. Dadurch lernen sie: Ich bin wichtig. Die Menschen freuen sich auf mich. Ich kann die Welt ein Stück besser machen. Ich kann alleine oder mit anderen viel bewirken. Eine frühe Selbstwirksamkeitserfahrung. Auch Grundschüler können schon was tun. Sie können in Kindergärten vorlesen, mit alten Menschen schöne Sachen machen. Verantwortung ist ein Fach, in dem das Herz gebildet wird. Man kann das auch in Fächer integrieren und – wie beim Service Learning - mit einer ganzen Klasse etwas machen. Dieser Freiraum - sich selber zu erfahren und möglichst auch seine Verantwortung selbst zu suchen - das finde ich ein sehr zukunftsfähiges Lernformat.
Gibt es noch weitere zukunftsfähige Lernformate?
Eine weitere Herausforderung heißt, sich mit Fremdem und Fremden anfreunden. SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern können gemeinsam überlegen, was kann das sein für uns? Was ist dafür geeignet? An meiner Schule in Essen hieß das "Ungewöhnliche Begegnungen". Es gab einen Projekttag die Woche und da gab es dann öfter mal Ungewöhnliche Begegnungen.
Am Lernort der Zukunft steht das Kind im Mittelpunkt und nicht der Stoff. Wir brauchen eine ganz andere Haltung. Kinder auf-bauen, nicht unter-richten. Nicht ständig bewerten, sondern wertschätzen. Wir haben ein Fach erfunden, das heißt Bildungsbande. Da gehen wir mit 12- oder 13-jährigen Kindern in erste Klassen in Schulen in sozialen Brennpunkten und helfen den Kindern im Unterricht. Die Erstklässler kommen angerannt und fragen: „Lernst Du heute wieder mit mir?“ Die Lehrer fragen: „Könnt ihr nicht jeden Tag kommen?“ Das ist eine win-win-win-win-Situation für alle. Die Grundschulkinder haben jemanden, der an sie glaubt. Die freuen sich. Die älteren Kinder tun etwas wirklich Relevantes. Die Lehrer fühlen sich unterstützt und Begegnungen der Lebenswelten finden statt- das zusammen leben wird gelernt.
Wie sieht ein Lernort der Zukunft noch aus?
Die Schule ist aufgebrochen. Es gibt nicht nur starre Stundenpläne, sondern auch projektbasiertes Lernen. Die Kinder lernen mit anderen Menschen, mit Künstlern – es wird viel Theater und Musik gemacht. Voraussetzung ist, dass Projektlernen strukturell verankert ist. Wenn man für ein Projekt Stunden von einem anderen Lehrer "ausleihen" muss, ist das immer Stress.
Lernen kannst Du überall. Zukunftsfähige Lernorte bleiben nicht in ihrer Schule, sondern nutzen vielfältige Möglichkeiten wie zum Beispiel Werkstätten oder auch die Natur. Die Schule ist andererseits auch offen für alle. Schulen müssen ja nicht ab dem Nachmittag leer stehen. Community Education. Die Schule als der kulturelle Mittelpunkt.
Wichtig ist auch intergenerationelles Lernen. Wir haben so viele ältere Menschen, die so viel Erfahrung, Wissen und Können haben, das sie natürlich anbieten können. Wir hatten zum Beispiel mal einen Bauwagen auf dem Schulhof, in dem der Opa eines Kindes alles Mögliche zum Erfinden und Zusammensetzen bereitgehalten hat. Die Kinder sind da sehr gerne hingegangen.
Wie vereinbart man das mit dem Lehrplan?
Jeder echte Wandel basiert auf neuen Denk-, Wahrnehmens- und Handlungsweisen. Lernen muss sich substanziell verändern. Dazu gehört, dass wir uns vom Lehrplan-Denken im Fächer-Korsett verabschieden müssen. Bildung für Nachhaltige Entwicklung befähigt zu integrierter Denkweise. Die wichtigen Fragen der Welt-Entwicklung gehen ja nicht in Fächern auf; sie sind generelle, substantielle Lern- und vor allem auch Handlungs-Felder. Gestaltungskompetenz ist der Schlüssel. Und in Projektformaten werden natürlich auch fachliche Kompetenzen erlernt, zum Beispiel für das Fach Deutsch. Die Kinder machen Interviews, telefonieren mit fremden Leuten, sie drehen einen Film, machen eine Präsentation, sie berechnen und bauen oder werten Statistiken aus, sind kreativ gestalterisch tätig und vieles mehr.
Die moderne Schule arbeitet jahrgangsgemischt, damit Kinder und Jugendliche voneinander lernen, sich unterstützen können und aus dem Konkurrenzmodus kommen. Sie entscheiden selbst, wann sie sich testen und bekommen Zertifikate. Die zukunftsfähige Schule bewertet nicht durch Noten sondern gibt hilfreiches Feedback. Sie verabschiedet sich vom kompetitiven Modus mit durchgängig Einzel-Bewertung. Die Zukunft braucht Vernetzungsqualitäten – Wir-Qualitäten. Kollaboration, Arbeiten an komplexen Aufgaben mit Ernst-Charakter im Team, Scheitern als Lernquelle - das alles wird Zukunftslernen prägen. Es geht um eine Kulturwende von der Einzelleistung zum Team, vom kompetitiven Höher, Schneller, Weiter in die Kraft des Wir.
Was lernen die Schüler an einer solchen Schule?
Für die großen Herausforderungen unserer Zeit brauchen wir junge Menschen, die lösungsorientiert denken und handeln und die es gewohnt sind, sich einzubringen und Verantwortung zu übernehmen - für sich, für Ihre Mitmenschen und für unseren Planeten. Und Verantwortung lernt man, indem man Verantwortung übernimmt und nicht aus Büchern.
Sie beraten Schulen, kommunale Einrichtungen, Bildungsprojekte und Stiftungen. Was ist denn die häufigste Frage, die gestellt wird?
In den Schulen ist die häufigste Frage: „Was mache ich mit Kollegen, die in den Widerstand gehen?“ In das Neue zu gehen, bedeutet ja seine Komfortzone zu verlassen, sich auf etwas einlassen, was ich noch nicht kenne. Sich in Neues zu begeben, macht vielen Angst. Man kann aber nur neue Erfahrungen machen, wenn man den Mut hat, loszulassen und zu vertrauen. Das fällt schwer. Aber genau das müssen wir ja vorleben, das Vertrauen in das Unbekannte. Denn bei der großen Transformation unserer Gesellschaft müssen wir uns in völlig neue Haltungen und Dinge begeben, die wir noch gar nicht kennen.
Ein unter die Haut gehender Vortrag kann helfen, bei dem Menschen einmal vor Augen geführt bekommen, wo wir heute stehen und was die Lernkultur damit zu tun hat. Es ist vielen gar nicht bewusst, dass wir in Deutschland gerade 3,3 Erden verbrauchen und die Tipping Points überschreiten. Und ... Haltungsänderungen gelingen oft dann, wenn Menschen etwas tief berührt, unter die Haut geht, wenn es um etwas geht, das größer ist als sie selbst. Etwas, wofür es sich lohnt, sich noch einmal auf den Weg zu machen. Meine Erfahrung: Wenn hinter der Schul-Transformation ein höherer Sinn steht, dann sind Menschen auch bereit, über ihre Ängste hinauszuwachsen. Für mich haben die Global Goals diese Kraft, die Ziele für nachhaltige Entwicklung. Wir können es anders machen. Wir können unsere junge Generation so stärken, dass sie tatsächlich andere Gesellschaften aufbauen kann. Wenn man das verstanden hat, steht man in der Verantwortung. Auch Zauderer lassen sich – zumindest für den Moment – infizieren.
Es ist wichtig erst mal mit denen zu beginnen, die wollen. Wir wissen, dass wir circa 15 bis 20 Prozent Innovatoren haben, die springen sofort auf, wenn sie etwas sinnvoll finden. 20 bis 35 Prozent sind die early majority. Die finden es eigentlich gut, schauen sich aber erst einmal an, ob es klappt. 15 bis 20 Prozent sind im Widerstand. Das ist ganz normal. Da darf man dann aber nicht seine Energie reinstecken. Diese Menschen muss man wertschätzen, denn sie haben alle ihre Gründe und sie bringen auch Gedanken ein, die hilfreich sind. Aber sie dürfen nicht den Prozess blockieren. Es geht meiner Meinung nach heute nicht mehr darum ob wir die Schule verändern, sondern nur noch ums wie.