Interview zum Freiburger Bildungsbericht 2022 mit Prof. Dr. Gerhard de Haan
Interview mit Prof. Dr. Gerhard de Haan von September 2022 über den 5. Freiburger Bildungsbericht.
Herr de Haan, Sie waren an der Erstellung des 5. Freiburger Bildungsberichts, der sich mit Bildung für nachhaltige Entwicklung befasst, maßgeblich beteiligt. Wir würden Ihnen daher gerne drei Fragen zu diesem Bericht stellen.
1. Welches Ergebnis bei der Auswertung der Befragungen hat Sie überrascht?
Zunächst muss man betonen, dass sich der Freiburger Bildungsbericht 2022 nur der BNE widmet und damit die erste repräsentative Erhebung zu BNE vorliegt, die alle Altersgruppen von 16 bis 96 einbezieht. Das ist – wenn auch auf Freiburg begrenzt – aktuell einmalig. Was den Bildungsbericht zudem zu etwas Besonderem macht: Er ist insgesamt stark partizipativ erstellt. Wie sich das für das Lern- und Handlungsfeld BNE gehört.
Zu Ihrer Frage: Was hat mich überrascht? Vieles. Ich greife einmal aus jeder der vier Teilstudien einen Schwerpunkt heraus. In der repräsentativen Bürgerinnen- und Bürgerbefragung war die Erwartung unter ca. 2/3 der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, dass die Befassung mit der Nachhaltigkeit in den kommenden 15 Jahren in Freiburg noch einmal stark wachsen wird. Wer hätte das gedacht, wo Freiburg vielen doch als Vorbild gilt? Beunruhigend dagegen ist der Befund, dass die klassischen ökologischen Themen (Klimawandel/Biodiversität, Energie und Mobilität) immer wieder als Fokus der Probleme und des eigenen Handelns genannt werden – soziale Aspekte dagegen haben weniger Zuspruch, ob es nun um besuchte Veranstaltungen, eigene Aktivitäten oder Wünsche für Lerngelegenheiten geht, ist dabei gleichgültig.
Neben der Bürgerinnen- und Bürgerbefragung via Paper and Pencil wurde von uns als zweiter Schwerpunkt eine Netzwerkanalyse zu den lokalen BNE-Bildungsakteurinnen und -akteuren durchgeführt. Weniger überraschend war deren Zahl – wir schätzen sie auf mehr als 200; aber dass mehr als 1/3 dieser Anbieterinnen und Anbieter erst in den letzten fünf Jahren neu auf den Bildungsmarkt gekommen sind, ist schon erstaunlich. Das zeigt die hohe Dynamik (jedenfalls für Freiburg) in diesem Feld. Es gibt aber auch Schwächen, wie die Ergebnisse zeigen: In der Netzwerkarbeit und im Informationsfluss sind wesentliche Verbesserungen notwendig.
Der dritte Schwerpunkt lag in der Beteiligung Jugendlicher. Dafür hatte das für große Teile der Studie verantwortlich zeichnende FIELDs Institute eigens ein Beteiligungskonzept entwickelt, das zu substanziellen Ergebnissen führte. Die 117 Jugendlichen, die sich daran beteiligten, – das war überraschend – kannten sich extrem gut aus in der Stadt, wussten um Probleme bis hin zur konkreten Straßenecke. Zugleich zeigte sich, dass die meisten ihrer Vorschläge zur Problembehebung schon in der Stadt in Bearbeitung waren. Hier besteht ein – auch von den Jugendlichen selbst thematisiertes – Informationsdefizit.
In einem aufwändigen Verfahren wurde schließlich im vierten Schwerpunkt ein Bürgerinnen- und Bürgergutachten erstellt. Die nach dem Zufallsverfahren ausgewählten 100 Bürgerinnen und Bürger haben – wie die Jugendlichen – viele detaillierte originelle Vorschläge entwickelt, was für (B)NE in Freiburg getan werden könnte. Nicht nur eine Stärkung der Vereinskultur (was mich überraschte, da ich dachte, Vereinsleben sei von gestern), sondern auch ein gezieltes Zugehen auf die Altersgruppe 35+ wird gefordert.
2. Ein Ergebnis der Befragung ergab, dass 25 Prozent der Lernzeit dem formalen Bildungsumfeld der Nachhaltigkeit gewidmet werden sollte. Wie könnte dies praktisch umgesetzt werden?
Das Erstaunliche ist zunächst, dass die Forderung Nachhaltigkeit 1/4 der Lernzeit überall (ob in der Schule, Beruflichen Ausbildung, Hochschule oder Weiterbildung) beanspruchen sollte, hochgradig konstant über alle Altersgruppen hinweg gefordert wurde (also von den 16jährigen wie von den 96jährigen). Wie lässt sich das bewerkstelligen? Manche Schulen machen es doch vor: So haben in Leipzig sich schon über 30 Schulen dafür entschieden, den FREI DAY zu nutzen, also einen Projekttag zu Zukunftsfragen einzuführen (was durch den § 1 des Schulgesetzes Sachsens gedeckt ist, da BNE darin zentral als Bildungsauftrag beschrieben ist). Mit einem solchen Projekttag und dem, was bisher schon in den Schulen praktiziert wird, hätte man die Quote von 25 % der Lernzeit schon erreicht.
In der beruflichen Aus- und Weiterbildung muss man sich die einzelnen Sparten und Berufe genauer anschauen, um sagen zu können, wo mehr BNE notwendig ist. Wenn man aber vom Whole Institution Approach ausgeht – was mir der einzig akzeptable Ansatz für eine nachhaltige Zukunft zu sein scheint –, dann ist recht einfach, nicht nur in den produzierenden Unternehmen, sondern auch in allen Dienstleistungsberufen zu erkennen, dass man mindestens 1/4 der Zeit mit Nachhaltigkeitsfragen befasst sein muss. Wie sonst wollte eine Auszubildende beim Discounter Wissen und Urteile über Warenströme, Anbau- und Produktionsformen der angebotenen Waren, über die Entlohnung der Arbeitskräfte usw. gewinnen? Das alles gehört auf die Agenda einer jeden Ausbildung. Dieses gilt auch und entschieden für die Weiterbildung, die dringend forciert werden muss, wenn wir 2030 tatsächlich alle befähigt haben möchten, in Sinne der Nachhaltigkeit handeln zu können.
Ehrlich gesagt lässt mich der Hochschulbereich unter Machbarkeitsgesichtspunkten ein wenig ratlos zurück. 1/4 der Studienzeit für NE bedeutet, das Lern- und Handlungsfeld Nachhaltigkeit aus dem Studium Generale herauszuholen und auch die reine Fachlichkeit des Studiums zu unterlaufen. Da an den Hochschulen alle Fächer ihre Claims aber stark verteidigen, dürfte es schwierig sein, das geforderte Zeitkontingent zusammenzubekommen. Eine Möglichkeit sehe ich in einem „Projektsemester N“: In einem solchen Semester könnte man zu substanziellen Erkenntnissen kommen, sogar handlungsorientiert unterwegs sein und vor allem inter- oder gar transdisziplinär agieren. Ich bin mir sicher: Danach weiß man nicht nur um den Beitrag des eigenen Studienfachs für Analysen und Perspektiven der (nicht) nachhaltigen Entwicklung, sondern auch, wo man sich selbst künftig engagieren will.
3. Inwiefern sehen Sie die Stadt Freiburg in Bezug auf BNE als Vorreiter und wie können gegebenenfalls andere Kommunen von Freiburg und dem 5. Freiburger Bildungsbericht lernen?
Ich würde mich zu weit aus dem empirisch gedeckten Bereich herauswagen, wenn ich sagen würde, Freiburg sei Vorbild für andere Kommunen. Zu anderen Kommunen fehlen die Daten. Unter dem Gesichtspunkt der Vorbildhaftigkeit lässt sich immerhin sagen, dass Freiburg 2022 den BNE-Preis für Kommunen erhalten hat – aber es waren ja auch andere Städte und Gemeinden dabei.
Eher und ohne zu spekulieren möchte ich deutlich machen, was der Vorteil für die Kommune ist, wenn sie einen Bildungsbericht zu BNE erstellen lässt: Man erfährt nicht nur, wo man als Kommune steht, sondern auch, wie die Bürgerinnen und Bürger über Nachhaltigkeit vor Ort denken, was ihnen wichtig ist, ob und in welchem Maße sie sich vor Ort engagieren mögen, wo die Schwächen in der Förderung von und Kommunikation über BNE zu finden sind, wer sich überhaupt engagiert und ob etwa das lokale Lernangebot dem entspricht, was die Bürgerinnen und Bürger als ihren Bedarf ansehen. Das sind nur einige Aspekte, die mir sofort einfallen, wenn es um die Vorteile der Analysen zum lokalen Stand von BNE geht. Jede Kommune solle über einen Bildungsbericht zu BNE verfügen. BNE ist zu wichtig, als dass man das den eigenen Vorurteilen, politischer Meinungsmache und Spekulationen überlassen sollte. Man braucht Daten.